V O R W O R T ==========
Vor Ihnen liegt der vollständige Text des daoistischen Klassikers DAODEJING in einer deutschen Übersetzung mit Kommentar nach einer Originalausgabe, die auf Heshang Gong aus der Zeit der Westlichen Han-Dynastie zurückgeht.
Der Daoismus ist eine der drei geistigen Hauptströmungen Chinas neben Konfuzianismus und Buddhismus und beschäftigt sich vor allem mit der Natur, der Stellung des Menschen in ihr und die daraus folgenden Grundsätzen einer sinnvollen Lebensgestaltung. Grundlegendes Werk dieser daoistischen Denkens ist das DAODEJING, das auf den geistigen Urvater dieser Richtung, nämlich LAOZI, zurückgehen soll. Der Daoismus selbst ist aber kein einheitliches und in sich geschlossenes Lehrgebäude, sondern untergliedert sich in eine ganze Reihe unterschiedlicher Richtungen und Schulen. Die im Hauptteil dieses Werkes mit Kommentaren und einer deutschen Übersetzung präsentierten Texte des DAODEJING sind stark von dieser Richtung geprägt, und es ist auch manchmal zweifelhaft, ob sich die dieses Werk repräsentierenden 81 Sprüche authentisch auf Laozi und dessen Autorenschaft zurückführen lassen. Dazu ist die Entstehungsgeschichte des DAODEJING, seine Quellenlage und Rezeption im Verlaufe der Jahrtausende und Jahrhunderte viel zu verwickelt gewesen. Aber zweifellos geben sie im Grundtenor auch jenen Geist wieder, von dem einst der Weise Laozi geprägt gewesen sein mag.
So ist das DAODEJING, dessen chinesischen Titel wir hier mit „Laozi Daodejing oder der Klassiker vom Wahren Grund" im Deutschen wiedergegeben haben, nicht nur eines der wichtigsten und grundlegendsten Werke zur chinesischen Philosophie, vielmehr eröffnet es uns auch den Zugang zum Verständnis bestimmter Teilfacetten der chinesischen Kultur, ihrer Wissenschaft und Sozialetikette. Viel wesentlicher erscheint uns jedoch, dass die in diesem Werk behandelten Fragen nicht nur den Zeitgenossen Laozis und seiner Nachfolger ein wichtiges existenzielles Anliegen waren, sondern auch heute noch – nach rd. 2500 Jahren – den Menschen des modernen Zeitalters in China und anderswo eine ganze Reihe von Denkanstößen bieten, die man als bedenkenwerte Alternativen zu bisherigen Denk- und Lösungsansätzen, der bisherigen Lebensweise und dem bisherigen Verständnis des Menschen und seiner Umwelt bezeichnen kann. Mancher, der auf grundlegende Fragen zum täglichen Leben, zu Fragen der Konsumhaltung, der Gewalt in dieser Welt, der wahren Sinngebung des Lebens und zu einer verantwortungsvollen Politik gegenüber Gesellschaft und Umwelt sucht, wird hier bemerkenswerte Antworten finden, die das eingefahrene Denken in andere, viel weiter geöffnete Bahnen lenken könnten und ihn einer Antwort und einem Lösungsansatz für die praktische Umsetzung im täglichen Leben näherbringen.
In der Tat wiederholt sich die Geschichte: Das, was die Menschen an existenziellen Grundfragen bereits vor mehr als 2000 Jahren bewegt haben mag, ist nach wie vor – wenn auch unter anderen historischen und soziokuzlturellen Vorzeichen – aktuell ebenso wie die inneren und äußeren Anlässe, die zu solchen Fragestellungen Anlass geben. So ist das DAODEJING ein wahres Schatzhaus, von denen es (nicht nur im chinesischen Kulturkreis) wahrhaft viele gibt.
Bei einem so alten und in der Vergangenheit bereits so vielfach kopierten Text bleiben Verständnisprobleme auch für den Spezialisten nicht aus: Die im Original verwendete Sprache ist in ihren Begriffen vieldeutig, es gibt zahlreiche Textvarianten, und vieles von dem, was im chinesischen Original noch einigermaßen verständlich sein mag, ist schwer in die Worte einer westlichen Sprache mit ihren grammatischen Kategorien zu fassen. Bestimmte Begriffe sind vielschichtig in ihrer Bedeutung, und sehr oft lässt auch der inhaltliche Kontext eine ganze Reihe verschiedenster Übersetzungsmöglichkeiten offen. Es liegt also in der Natur des Originaltextes dieses Werkes, dass die bisher vorhandenen Übersetzungen des DAODEJING in westliche Sprachen weniger qualitativ denn inhaltlich divergieren, was ihre eigentlichen Aussagen angeht, und es so etwas wie die „richtige" Übersetzung des DAODEJING eigentlich gar nicht geben kann. Dies gilt natürlich auch für die vorliegende deutsche Textfassung – die eingebauten Kommentare und möglichen Übersetzungsalternativen geben davon ein beredtes Beispiel. Wir konnten hier also lediglich den Versuch machen, eine Übersetzung dieser 81 Sentenzen des Daodejing vorzulegen, die dem Geist des zugrunde liegenden philosophischen Denkens möglichst weitgehend entspricht, das Gesagte müßte dann das auch tatsächlich Gemeinte (Autorenintention) sein. Wir haben uns zwar bemüht, einerseits wortgetreu und andererseits auch verständlich zu übersetzen, aber angesichts der oben bereits erwähnten Eigenheiten des Originaltextes kann dies immer nur eine ungefähre Annäherung an den Text sein.
Das hier vorliegende Werk ist ein Produkt des chinesischen Kulturkreises und weist natürlich als solches trotz seines universellen Charakters im inhaltlichen Grundtenor eine ganze Reihe kulturspezifischer Eigenheiten auf, die für den westlichen und auch den deutschen Leser einer Erläuterung bedürfen. Allgemeine und ausführliche Hintergrundinformationen finden sich in dem vorgeschalteten Einführungsteil, der gleichzeitig auch das für den westlichen Leser notwendige Grundlagenwissen zum Daoismus, seinem geistigen Vater Laozi, die Bezüge des Daoismus zu Konfuzianismus und Buddhismus und vielem anderen mehr vermittelt. Im Anhang findet sich außerdem ein Glossar mit den wichtigsten Fachtermini, die in diesem Werk Verwendung finden, und eine Zeittafel zu den chinesischen Dynastien, die der besseren Orientierung des Lesers dienen sollen. In dem darauf folgenden Literaturverzeichnis wird auf weitere Spezialliteratur zu diesem Thema hingewiesen. Außerdem ist dieser Ausgabe der komplette chinesische Originaltext des DAODEJING in traditioneller vertikaler Druckausrichtung beigegeben.
Obwohl die He-Shang-Gong-Originalfassung des Textes viel seltener den Übersetzungen des DAODEJING in westliche Sprachen zugrunde liegt und daher kaum bekannt ist, haben wir sie als Grundlage für unsere Übersetzung als maßgebliche Textgrundlage gewählt. Nicht nur deswegen, weil sie bereits bis auf die Han-Zeit in vorchristlicher Zeit zurückgeht und damit wesentlich älter sein dürfte als die von Wang, die für die meisten Übersetzungen in westliche Sprachen benutzt wurde. In vielerlei Hinsicht bietet sie nämlich auch stärkere und direktere Bezüge zu einem anderen wichtigen und allerersten schriftlichen Werk zur Traditionellen Chinesischen Medizin, nämlich dem HUANGDI NEIJING („Klassiker des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin“)2, das ungefähr um die gleiche Zeit entstanden sein dürfte und in dem das im Daodejing skizzierte Weltbild als „geistig-geistlicher Überbau“ eine so hervorragende Rolle spielt.
Eine auf Wang basierende annotierte Textausgabe des chinesischen Originals des hier in deutscher Übersetzung vorliegenden Werkes ist ebenfalls im gleichen Verlag erschienen.
Herbst 2009
Der Autor und Herausgeber
INHALTLICHE INTERPRETATIONSHINWEISE ZU DEN TEXTEN
DES DAODEJING
(Spiritueller Kommentar im Anhang)
V O R B E M E R K U N G ======
Für die Interpretation von Texten gilt, dass es einmal inhaltsbezogene Kriterien sind wie: „Was und warum wollte der Autor damit eigentlich sagen?“ (Autorenintention), die in der Interpretation von Texten zu berücksichtigen sind. Zweitens sind es aber auch die speziellen sprachlichen und stilistischen Mittel, die der Autor eines Textes benutzt, um zu seinen Aussagen zu kommen. Im ersten Fall spielen neben der Frage nach der Aussageintention denn auch Fragen zu den zeitgeschichtlichen Umständen zur Zeit der angenommenen Abfassung des Textes, Fragen der Autorenschaft und mögliche Textvarianten in den verschiedenen Editionen eines solch alten Textes eine Rolle. Der bereits genannte zweite Fragenkomplex – nämlich der der vom Autor verwendeten sprachlich-stilistischen Mittel – entspricht dem grammatisch-philologischen Teil einer fundierten Textexegese.
Die grammatisch-philologischen Befunde sind weitgehend in den Anmerkungen zur deutschen Übersetzung der 81 Sprüche im Haupttext berücksichtigt worden; Fragen der Entstehungszeit und zeitgeschichtlichen Umstände usw. sind zudem im Einleitungsteil wohl ausreichend behandelt worden. In diesem Kommentarteil können wir uns daher allein auf solche Fragen der inhaltlich bezogenen Autorenintention beschränken, die allerdings für ein tieferes inhaltliches Verständnis der Texte unabdingbar ist.
In diesem Teil finden sich denn derartige inhaltliche Interpretationshinweise, die dem Leser das inhaltliche Verständnis der Sprüche 1 bis 81 in diesem Buch erleichtern sollen. Es erschien nicht zweckmäßig, solche Hinweise in die Texte selbst oder in die entsprechenden Anmerkungen dazu einzubauen. Für die Texte von Teil 2 des Buches lassen sich inhaltlich zwei verschiedene Arten feststellen: solche, in denen, wenn von den zentralen Begriffen wie „Dao“ und „Tugend“ die Rede ist, diese auch explizit erwähnt werden, und solche, wo dies nicht der Fall ist und Umschreibungen wie „das Eine“, „das Dunkle / Geheimnisvolle“ zum Beispiel für das Dao benutzt werden. Könnte es vielleicht sein, dass hier textgeschichtlich zwei unterschiedliche literarische Schichten vorliegen, die später in das Gesamtwerk integriert wurden?
Die wesentlichen Grundgedanken des Werkes werden schon in den Sprüchen 1 bis 37 des Ersten und Zweiten Buches entwickelt, in den folgenden Texten des Dritten und Vierten Buches werden diese Grundgedanken immer wieder aufgenommen – zahlreiche Wiederholungen sind dabei unvermeidlich – und in neuen Kontexten präsentiert. Aus diesem Grunde wurden die Inhalte der Texte des Ersten und Zweiten Buches mit ausführlicheren inhaltlichen Hinweisen versehen, um dem westlichen Leser den Zugang zur daoistischen Gedankenwelt dieser Texte zu erleichtern, während die inhaltlichen Hinweise zu den Sprüchen 38 bis 81 des Dritten und Vierten Buches zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen, da wo möglich, nur sehr knapp gehalten sind.
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