Das Buch »Eisberge der Kolonisierung« von Antonina Schneider-Stremjakowa ist ein Werk über die ersten Kolonisten, die dem Ruf der Zarin Katharina II. in den Jahren 1763 und 1764 gefolgt sind und aus den deutschen Staaten nach Russland auswanderten. Die Zeit der Handlung fällt in die Jahre 1763 bis 1830. +++ Wie aus der Erzählstruktur zu ersehen ist, stellt sich die Verfasserin der äußerst komplizierten Aufgabe, in künstlerischer Form den Geist und die Atmosphäre der Auswanderer wiederzugeben, die sich durch die unterschiedlichen Umstände gezwungen sahen, in das große, aber unberechenbare Russland auszureisen. Diese Absicht der Verfasserin ist vergleichbar mit dem Wagemut dieser Auswanderer, denn es gibt bisher nur wenige künstlerische Arbeiten über die Geschichte der Russlanddeutschen. +++ In diesem nicht allzu umfangreichen Roman gelingt es Antonina Schneider-Stremjakowa, die Geschichte zu verallgemeinern und zu systematisieren: die Ausreise nach Russland, Pugatschows Aufstand, Raubzüge der Kirgisenbanden, Herzlosigkeit der Beamten und den die Kolonisten unterjochenden Erlass von 1782 werden behandelt. +++ Die Erinnerungen ihres Vorfahren, Anton Schneider (1798–1867), bekräftigen die historische Glaubhaftigkeit der zur Auswanderung entschlossenen Volksgruppe. +++ Das Buch ist in einer für den Leser allgemein verständlichen Sprache verfasst, die Liebesszenen sind natürlich wie das Leben selbst. Die Autorensprache ist bildhaft und anschaulich: »Der Sommer stickte bunte Muster und füllte jedes mit seinem besonderen eigenartigen Duft«. »Mit zerschundener Seele musste sie die ausgelassene Gesellschaft verlassen.« Lorenz verabschiedete sie mit einem hilflosen Blick.« »Der Tag war herrlich warm, verblühender Löwenzahn führte seine kugelrunden und fast durchsichtigen Köpfchen vor.« Und so weiter. Die Autorin suchte bei ihrer Abfassung keine Analogien zum schwäbischen Dialekt; dafür aber ließ sie Katharina II. in der Sprache ihrer Manifeste reden, wobei der Beamte, der nur einmal kurz auftaucht, den völlig herzlosen Satz eines Bürokraten fallen lässt: »Das Staatssäckel der Kaiserin kann nicht die ganze Welt mit milden Gaben versorgen.« +++ Der Leser lernt die standhaft bewahrten Sitten und Bräuche der neuen Ansiedler kennen, die in Russland bei weitem nicht immer begrüßt worden sind. Und das erschwerte natürlich die damaligen Lebensverhältnisse . . .
Die Hauptprotagonistin des Romans ist die Zeit selbst, die die Belastungen der Umsiedlung bestimmt hat. Vier Generationen der Familie Schneider erleben diese Belastungen auf sehr unterschiedliche Weise. Es sind einfache, friedliebende Menschen, sie haben keinerlei Ansprüche auf irgendwelche Rechte oder exklusive Behandlung. Sie zeigen keinerlei aggressive Kampfeslust, ihr Lebenscredo lautet: leben, arbeiten, lieben. Aber diese natürlichen Bedürfnisse waren wegen der Machtverhältnisse im Ankunftsland und der dort herrschenden Lebensumstände nicht so einfach zu realisieren. Und genau das wird auch im Roman behandelt. +++ Das Buch ist informativ und vermittelt viele Erkenntnisse. Dargestellt ist die Ära längst vergangener Tage, und beim Lesen zieht man unwillkürlich Vergleiche zwischen jenen Ereignissen und der heutigen Zeit, da die Spuren der damaligen Verhältnisse noch immer bemerkenswert sind. +++ Mit dem Buch »Eisberge der Kolonisierung« ist Antonina Schneider-Stremjakowa ein weiteres Meisterstück gelungen, und ich hoffe, dass ihre Leser ebenso empfinden.
Alexander Meißner, Doktor der Philosophie, Dichter und Publizist
Von der Autorin
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Die Vorstellung von einer fernen Epoche – glatt, uneben, zerrissen und blutig – mit ihren Lebensgewohnheiten, ihren Sitten und Gebräuchen, füllt nicht nur die Geschichtsstunden; es ist vielmehr die literarische Erzählweise, die es vermag, unsere Einbildungskraft, unsere Aufmerksamkeit und unsere Gefühle zu mobilisieren. Die Leser durchlaufen das Leben der Helden. Sie werden zu deren Zeitgenossen in einer Welt, in der, gleich einem antlitzlosen Wirbelwind über einer glatten Eisfläche, die Geschehnisse nicht selten zu entgleiten drohen. Immer wieder obsiegt angesichts des Todes und in untergangsähnlichen Situationen der extrem starke Wille zum Weiterleben, der diese Zeit in besonderer Weise geprägt hat . . . +++ Über die Besiedlung Russlands durch die Deutschen ist nach wie vor wenig bekannt – auf das Wieso, Wofür, Wann und Wie findet der Leser in diesem Roman lebensnahe Antworten.
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