Der zweibändige autobiographische Erinnerungsroman „Ein Leben wie Dickmilch” ist ein bezeichnendes Bild über das Leben der Deutschen im Russland des 20. Jahrhunderts. Zwillingsschwestern, kaum vier Jahre alt, werden zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges im Dorf Mariental am Fluss des Großen Karaman zusammen mit ihren Eltern und einigen Verwandten in einen Viehwaggon verfrachtet und in eine fremde unbekannte Gegend gebracht. Sie wissen noch nicht, was sie erwartet. Die freudlose Atmosphäre, diese düsteren, unzufriedenen und sogar bösen Gesichter, diese so bangen Stimmen und Blicke sowie auch der vollgepfropfte Güterzug, der unendlich lange an den Stationen hält, lässt sie aufmerken. Und die Unruhe der Erwachsenen überträgt sich auch auf die Kinder. Sie ahnen, dass gerade etwas ganz Schlimmes passiert. Erst im Laufe der Zeit gehen ihnen die Augen auf und sie erfahren alle Gräueltaten, die sie und ihre Eltern zu erleiden hatten. Vorausgegangen waren Revolution, Bürgerkrieg, Hungersnot an der Wolga; darauf folgten Krieg und Deportation, Zwangsarbeitslager (genannt: Trudarmee), die Flucht aus diesem Lager, unendliche Konflikte mit der Kommandantur, der Tod des Diktators. Der Lauf der Dinge wurde infolge durch die Neulanderschließung, den Widerhall aus Afghanistan und endlich durch die PERESTROIKA bestimmt – dies ist nur eine kurze Aufzählung aus der Fülle der Themen, die der Roman behandelt. Trotz der Beschreibung der sich im Lande entfaltenden gesellschaftspolitischen Ereignisse lässt die Autorin das Schicksal der Hauptheldin innerhalb dieser sozialen Verhältnisse nicht aus den Augen. Ein spannender Tatsachenbericht, der dem Leser in vielen Situationen das Herz zu brechen droht und der zugleich das Gefühl vermittelt, dass die Protagonisten aus allen Widrigkeiten immer wieder auch neuen Lebensmut schöpften.
++++++++++++ Aus dem VORWORT ++++++++++++
Der Erinnerungsroman „Ein Leben wie Dickmilch”, der aus einzelnen wahren Geschichten besteht, beginnt mit der Erzählung über die eigenen Wurzeln und den damit verbundenen Szenen aus der Zeit des Bürgerkrieges und der Hungersnot im Wolgagebiet. Danach gleitet die Einleitung reibungslos zu Bildern aus den Kindheits- und Jugendjahren der Autorin hinüber, deren Leben ständig mit Entbehrungen und schwerer Arbeit verknüpft war. Die persönlichen Erlebnisse der Autorin sind unzertrennlich mit den Ereignissen im Lande verbunden. Repressalien, Bespitzelungen, Denunziationen, Krieg, Tag des Sieges, Tod des Diktators, Neulanderschließung und sogar Atombombentest – das sind alles Ereignisse aus dem realen Leben. Und die Verhaftung des völlig unschuldigen Großvaters und der Tod des Vaters in der Arbeitsarmee kommen auch nicht aus irgendwelcher virtuellen Wirklichkeit. Das Schicksal der Russlanddeutschen ist untrennbar verflochten mit dem der Russen, Ukrainer, verbannten Armenier, die gleichfalls in den Schraubstock des Systems gespannt waren. Jeder hat seinen Charakter. Manche Einheimische schlagen bei jeder Gelegenheit Alarm – „Deutsche!”. Aber diese erniedrigende Abstempelung lässt die Hauptheldin nicht erbittern: Sie hat gute Freunde sowohl unter den Ihrigen als auch unter den Hiesigen. Aber das Wichtigste ist, dass sie ihre eigene Meinung besitzt (in jenen Verhältnissen fast unvorstellbar!). Und sie ist eine Persönlichkeit, für die das menschliche Prinzip an erster Stelle steht. Die Ereignisse und handelnden Personen sind plastisch dargestellt und mit treffenden Beobachtungen geschmückt. Aufmerken lässt zum Beispiel schon der Satz: „Da ist, Opa, ein Papier jekommen, stopp dir die Ohren zu und lies es!” Solche Redewendungen wie etwa: „Sie stürzte sich in die dunkle Nacht”, „Filmstreifen der Erinnerung”, „elektrisiertes Klima”, „tränende Bächlein”, „der lachende Saal” verleihen der Erzählung Anschaulichkeit und zeugen davon, dass die Autorin die Kultur und den Reichtum der russischen Sprache kennt und tief empfindet.
++++++++++++ Aus dem PROLOG ++++++++++++
Zwanzigstes Jahrhundert . . . Das Jahrhundert, das zwei Länder bestimmt haben, die meine ,Heimaten’ werden sollten: Deutschland, das Gebiet meiner historischen Herkunft, und Russland, das mich nach meiner Geburt und der hier verbrachten Lebenszeit für immer geprägt hat. Das Manifest der Kaiserin Katharina II. im Jahre 1763 hatte den Auswanderern eine Reihe von Privilegien zugesichert, und aus den deutschen Landen strömten viele von den langen Kriegen erschöpften Bürger in die weiten freien Staatsgebiete Russlands. Im Sommer 1765 entschloss sich auch Kaspar Schneider, ein Tagelöhner des Dorfes Willerwalden in der Nähe der schönen Stadt Metz (heute zu Frankreich gehörend), aus dem katholischen Lothringen mit seiner Familie auszuwandern. Dieser tapfere Mann guten Willens konnte aber die schwierige Reise nicht überstehen und starb unterwegs nach Russland, wobei er Sohn Lorenz, dessen Nachkomme ich bin, und Tochter Maria Katharina hinterließ. Die Umsiedlung meiner Vorfahren begann an der Donau und endete 1766 am linken Ufer des Großen Karaman, eines Nebenflusses des großen russischen Stromes Wolga. Den Blicken der Einwanderer erboten sich der wasserreiche Fluss, der wunderbare Blütenreichtum der Wiesen und wilden Wälder. Die Schönheit der jungfräulichen Landschaft flößte Hoffnung ein, die endlosen Weiten machten trunken. Die Umsiedler hegten die Hoffnung, dass dieses fruchtbare Land sie nicht nur heute ernähren, sondern auch den Grundstein für eine glückliche, reiche und vor allem freie Zukunft legen wird. Um den ersten Winter überstehen zu können, wurden eilig Erdhütten ausgehoben, aber das Frühlingswasser überschwemmte sie. Halbhungrig und halbnackt suchten sie Rettung auf erhöhten Stellen. Die am Leben Gebliebenen verließen sich auf den Sommer, aber dieser brachte ein neues Unglück – Fieber . . . Zwei Jahre später teilte man ihnen Holzhäuser zu in dem an der Cholera ausgestorbenen Dörfchen Tonkoschurowka, das man zu Ehren des ersten deutschen Vorstehers in Pfannenstiel umbenannte, aber im Ukas der Tutelkanzlei für Einwanderer hieß es, dass Benennungen, die mit Eigennamen verbunden sind, durch andere ersetzt werden müssten. So wurde die Kolonie in Mariental umbenannt, denn sie befand sich auf der Wiesenseite, in einem Tal also. Diesen wohlklingenden Namen, den die Ohren der Einwohner so melodisch empfanden, trug das Dorf bis zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges (1941) – heute heißt die Siedlung Sowjetskoje.
Nun zog das Jahr 1782 auf, das sich in das Gedächtnis der Kolonisten noch tiefer eingegraben hatte als die Überfälle der „Kirgisen”. Aus Angst vor einem neuen Pugatschow-Aufstand räumte die Regierung den Deutschen die gleichen Rechte ein wie den „gemeinen Cholopen” (Leibeigenen) – den rechtlosen Bauern. Der Ukas wäre machtbefugt gewesen, wenn es keine Leibeigenschaft gegeben hätte, und solange die „gemeinen” Bauern mehr Land als die Kolonisten besaßen, waren die Deutschen nicht imstande, die Schulden ihrer Vorfahren zu tilgen. Nimmt man ein Glied aus der Kette heraus, so wird sie kürzer, genauso verringerte sich auch die Zahl der Kolonien und der in ihnen an den körperlichen und moralischen Erniedrigungen Leidenden; es begann ein Massenexodus der Deutschen nach Kanada, Amerika, Brasilien. Schwer zu sagen, ob sie in Russland überhaupt noch geblieben wären, wenn 1797 durch den Ukas des Zaren Paul I. nicht wieder das „Saratower Kontor für Vormundschaft der Ausländer” aufs Neue gegründet worden wäre. Das nächste Jahrhundert ermöglichte es, die für die Umsiedlung verbrauchten Kronschulden zurückzuzahlen. Mariental erwuchs zum Kantonzentrum – ein schönes wohlhabendes Dorf, das seinen Bewohnern noch so manche schwere Prüfung abverlangen sollte.
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