Der Tod bedeutet für jede Gesellschaft ein dramatisches Problem, dem sie sich stellen muss. Er bedroht nicht nur die Existenz des Einzelnen, sondern er gefährdet das gesamte Sozialgefüge. Er fordert die Gesellschaft heraus, ihn in ihrer Ordnung zu berücksichtigen und sich ihm zu stellen. Das erste Problem ergibt sich beim drohenden Verlust eines Mitgliedes der Gesellschaft, bei seinem Sterben. Ein weiteres ist das Vorhandensein der Leiche und der Umgang mit dem Verlust. Rituale und Zeremonien stellen bei diesen Problemen einen Lösungsversuch dar. Für die heutige Zeit gilt, dass das Sterben aus unserem Alltagsleben heraus verlagert wurde. In diesem Sinne schrieb NORBERT ELIAS kurz vor seinem eigenen Tod: »Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden Sterbende so hygienisch aus der Sicht der Lebenden hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens fortgeschafft« (Zitat nach Neffe 1991). Die Verlagerung gilt auch für die letzten Dienste am Verstorbenen. Heute gibt es für alles Spezialisten. Die Bestattungsindustrie nimmt uns diese Tätigkeiten ab. Wir haben die letzten Liebesdienste an unseren Toten an sie weiterdelegiert, weil sie in unserem Leben keinen Platz mehr haben, jedoch auch, weil wir ihnen keinen Raum mehr geben. So berauben wir uns einer Möglichkeit, unsere Gefühle, unsere Trauer in Form von bestimmten Ritualen und Zeremonien zu kanalisieren. Es fällt uns schwer, unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und sie so zu verarbeiten, da wir den haltgebenden Rahmen, den Rituale und Zeremonien bilden, an Institutionen übergeben haben. Nicht wir sind diejenigen, die die Rituale inszenieren, Spezialisten inszenieren sie für uns. Noch deutlicher: Nicht wir gehen mit dem Sterbenden und der Leiche um, sondern wir lassen mit ihnen umgehen. Die Ritualisierung der wichtigen Lebensabschnitte scheint einem menschlichen Bedürfnis zu entsprechen, das lässt sich aus ihrer Verbreitung ableiten. Wir sind fasziniert von der ganzen Bandbreite der Rituale anderer, außereuropäischer Völker und scheinen unsere eigenen zu vergessen. Es soll nicht alten, nicht mehr verstandenen Bräuchen und zu äußerlichen Konventionen erstarrten Ritualen nachgetrauert werden. Doch, wie METKEN (1984) bemerkt, ist nicht die Unfähigkeit, diese lebenswichtigen Regulative des Zusammenlebens sinnvoll zu erneuern und der Gegenwart anzupassen, der Preis, den wir für die pluralistische Gesellschaftsform und ihre Freiheiten zahlen müssen (vgl. S. 72). In den früheren Epochen unserer Geschichte schien der Tod jedem gegenwärtig zu sein. Der Mensch war Zeuge des Sterbens seiner Mitmenschen und der Tod wurde bewusst erlebt. Diese Konfrontation mit dem Sterben und dem Tod machte einen gewissen Umgang erforderlich, der von Ritualen geprägt war. Im Gegensatz dazu ist das Lebensende eines Mitmenschen heute nicht mehr für jeden miterlebbar, da sich der Sterbeort in Krankenhäuser und Pflegeheime verlagert hat. So ist der Tod für uns etwas im Verborgenen Ablaufendes. Andererseits werden wir mit ihm täglich in den Medien konfrontiert. Die Darstellung des Todes in den Medien scheint als Ersatz für die persönliche Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen Seins zu fungieren. Der einerseits in unserer Gesellschaft verborgene Tod steht dem Tod in den Medien gegenüber. Leid und Elend werden dort öffentlich dargestellt. Wir konfrontieren uns nicht mehr mit dem Tod. Wir werden mit dem Tod konfrontiert. Dann, wenn wir ihn nicht erwarten. Plötzlich und unverhofft holt er uns ein und zwingt uns, sich ihm zu stellen. Wir, als Angehörige, haben nicht mehr das Ausmaß an Ritualen zur Verfügung, welches es uns ermöglichen würde, den Verlust gut zu bewältigen. Es wird uns kaum zugestanden, den letzten Dienst am Sterbenden oder an seiner Leiche zu vollziehen. Trauerstörungen, wie Depressionen, Abgleiten in die Sucht oder gar Suizidalität können die Folge sein. In dieser Arbeit möchte ich aufzeigen, wie reich der Totenkult unserer Ahnen war und wie notwendig ein Umdenken und Platzmachen für Individualität bei Sterbe- und Todesritualen ist. Es geht nicht um ein Wiedereinführen von überholten Traditionen, die von vielen ohnehin strikt abgelehnt werden, sondern um ein Suchen nach neuen Wegen, nach neuen, sinnstiftenden und individuellen Ritualen, die es uns ermöglichen Halt zu finden – als Sterbender, sowie als Angehöriger oder Trauernder. Unser kulturelles Erbe kann eine Orientierung bieten, doch müssen neue Rituale geschaffen werden, damit wir nicht hilflos dem Geschehen gegenüberstehen. Im Vordergrund steht für mich vor allem die Fragestellung, wie die Menschen an der Wiege unserer Kultur im deutschen Raum mit dem Tod und mit ihren Toten umgegangen sind und welche Rituale den Umgang mit ihren Sterbenden und Toten bestimmten. Davon ausgehend, dass ein Wandel diesbezüglich stattgefunden haben muss, werden in der vorliegenden Arbeit bestimmte Schauplätze der Geschichte Deutschlands beleuchtet, in denen es zu Wendepunkten im Umgang mit dem Sterbenden und dem Toten kam. Auf gewisse Sonderformen, wie Mord oder Selbstmord, Sterben im Krieg und an Pestepedemien, Tod von Berühmtheiten (Staatsoberhäuptern, Königen und Künstlern) sowie Sterben und Tod in neben dem Christentum existierenden Religionen, wird in der vorliegenden Arbeit verzichtet, da es den angedachten Rahmen sprengen würde. Der von mir verwendete Ritualbegriff ist ein sehr weitgefächerter. Er schließt alle Handlungen des Sterbenden, sowie Handlungen an ihm, die Behandlung der Leiche und Handlungen der Hinterbliebenen mit ein. Im 1. Kapitel wird sich mit verschiedenen Ritualtheorien aus der Literatur auseinandergesetzt, um die Bedeutung der Rituale zu erklären. Weiterhin werden, als Vorbereitung auf die folgenden Kapitel, die verschiedenen Rituale um Sterben, Tod, Begräbnis und Trauer erläutert. Es erscheint mir wichtig herauszufinden, welchen Stellenwert der Ahnenkult für unsere Vorfahren hatte, deshalb wird das 2. Kapitel die Begräbnisformen in den verschiedenen Zeitabschnitten der Frühzeit behandeln. Vielfach ist die Forschung hier auf Spekulationen angewiesen, doch lassen sich vielleicht interessante Parallelen zu den nachfolgenden Epochen ziehen.
In den Kapiteln 3, 5, 6 und 7 wird die Herangehensweise bei der Bearbeitung des Themas die gleiche sein. Es soll jeweils eine kurze Einführung gegeben werden, die den Kontext zur jeweiligen Epoche herstellt. Im weiteren Verlauf soll aufgezeigt werden, wie das Sterben, der Umgang mit der Leiche und das Begräbnis inszeniert wurde. Das Umfeld und die sozialen Lebensbedingungen sollen nicht extra berücksichtigt werden, da mir die Handlungen allein zur Abdeckung des Themas ausreichend erscheinen. Es soll untersucht werden, wie und wo das Sterben stattfand und welche Handlungen sich daran knüpften. Gleichfalls soll herausgefunden werden, welche Manipulationen am Leichnam vollzogen wurden, und wer sie vollzog. Auch dem Begräbnis wird jeweils ein extra Punkt gewidmet sein. Die Friedhofskultur soll ebenfalls erläutert werden, da sie meines Erachtens ein wichtiges Indiz für die Stellung des Todes in der jeweiligen Gesellschaft bildet. Den Abwehrritualen wird im Umgang mit dem Toten in allen Epochen ein großer Stellenwert beigemessen. Um diese Rituale und den Tabucharakter des Leichnams zu verdeutlichen, gibt es im 4. Kapitel einen Exkurs über heidnische Rituale, der dem besseren Verständnis dienen soll. Im 8. Kapitel werde ich verschiedene Zeitepochen stark komprimiert miteinander vergleichen, um Wandlungsprozesse deutlich zu machen. Dieses soll gleichzeitig als Zusammenfassung dienen. Den Abschluss bildet das 9. Kapitel, in dem ich Schlussfolgerungen ziehen werde.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf Sterberituale und Todeszeremonien und zeigt, wie diese im Verlauf der historischen Entwicklung unterschiedliche Einstellungen zum Sterben und zum Tod zum Ausdruck bringen. Es wird verdeutlicht, dass Sterberituale und Todeszeremonien sich als gesellschaftliche Versuche begreifen lassen mit der Bedrohung durch den Tod umzugehen. In den Ritualen schließen sich die Beteiligten zusammen und versuchen in ihren Handlungen Unsichtbares sichtbar zu machen und so in seinem Schrecken zu bannen. Ritueller Umgang mit Sterben und Tod ist somit ein Versuch, Erfahrungen der Ohnmacht und Ausweglosigkeit auszuhalten. In verschiedenen historischen Perioden, (Frühzeit, Mittelalter, Frühe Neuzeit, Zeit der Aufklärung, Gegenwart) wird der spezifische Umgang mit dem Tod und dem Sterben rekonstruiert und der gesellschaftliche Charakter der Rituale wird verdeutlicht. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden am Ende der Arbeit herausgestellt.
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