Feministische Theoriebildung im Bereich der Philosophie ist ein relativ später Effekt der Neuen Frauenbewegung, die sich um 1968, parallel zur Studentenbewegung, in Frankreich und der Bundesrepublik entwickelt hatte. Zunächst lehnten die engagierten Frauen besonders im deutschen Raum Theorie als rein männliches Produkt ab. Sie befürchteten, dass theoretische Auseinandersetzung von ihrer Seite aus der Festigung des Primats patriarchalischer Wissenschaftsvernunft zuarbeiten würde. Mit zunehmender Erkämpfung und Entwicklung des Wissenschaftszweiges Frauenforschung in dem Bildungsinstitutionen etablierte sich dann doch ein Forschungszweig »philosophische Frauenforschung«, dessen Theoriekonzepte als »feministische Philosophie« bezeichnet werden. Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray kann es zu ihren Verdiensten zählen, die anfängliche Theoriefeindlichkeit der Frauenbewegung in beiden Ländern Mitte der 70er Jahre mit durchbrochen zu haben, indem sie die Beschäftigung mit Philosophie, der »Mutter der Wissenschaften«, auf eine für Frauen (und Männer) inspirierende und für die Situation von Frauen (und Männern?) aufklärende Weise vorantrieb. Ihre Arbeit besteht zum großen Teil in der sehr detaillierten und äußerst kritischen Befragung des philosophischen Diskurses hinsichtlich seiner impliziten Aussagen über Weiblichkeit.
Einerseits ist Irigaray – besonders auf akademischer Ebene – nur spärlich rezipiert worden, obwohl sie interessante Motive für die »Frauenfrage« liefert. Der Grund für diese Zurückhaltung – sogar die philosophische Frauenforschung tut sich schwer mit der Diskussion von Irigarays Arbeiten – liegt sicherlich unter anderem in der Eigenart ihrer komplexen Texte. Andererseits wehrt sich die Philosophin selbst gegen die Vereinnahmung ihres Werkes im institutionellen Rahmen, weil dieser Rahmen, der dem Wahrheit und Allgemeingültigkeit beanspruchenden männlichen Gesetz gehorcht, ihre Ausführungen nicht angemessen aufnehmen kann. Trotz dieses Einwandes will die vorliegende Untersuchung eine Einordnung einiger Aspekte des Irigarayschen Ansatzes in das Konzept feministischer Philosophie versuchen. Dabei orientiert sie sich an der grundsätzlichen Fragestellung, ob feministische Philosophie, und somit auch Irigarays Beiträge dazu, eine Alternative zu herkömmlicher Philosophie bietet und bieten kann. Die Einordnung von Irigarayschen Theorieelementen erfordert zunächst – im ersten Kapitel – die Darstellung der Grundannahmen und Ziele feministischer Philosophie sowie ihre Abgrenzung von traditioneller Philosophie, von Philosophie »ohne Vorzeichen«. Auf die Beschreibung und Diskussion der Methoden feministischer Philosophie wird dabei aus zwei Gründen besonderer Wert gelegt: Einmal lässt sich anhand der Methodik die oben angesprochene Orientierungsfrage verdeutlichen und problematisieren. Zweitens kann gerade Irigarays Verfahren als wichtiger Beitrag zur Entwicklung eines anderen Theorieverständnisses angesehen werden, das sich vom herrschenden Konzept von Wissenschaftlichkeit unterscheidet: Man könnte es, besonders was seine Sprache betrifft, mit der Wendung »Praxis als Theorie« bezeichnen. Die psychoanalytischen Voraussetzungen, auf denen Irigarays Ansatz aufbaut, werden jeweils kurz erläutert, weil deren Missachtung die Komplexität ihrer Theorie entstellen und zu Unverständlichkeiten führen würde.
Im zweiten Kapitel schließen sich Vorstellung von sowie Auseinandersetzung mit zwei ausgewählten Motiven aus Texten Irigarays an: Blick und Berührung. Irigarays interpretierender Umgang mit diesen beiden, für ihre Gedankenführung äußerst relevanten, Motiven sowie ihre Einordnung des Blicks als männlich und der Berührung als weiblich erlauben, Blick und Berührung als Elemente feministischer Philosophie in ihrem Werk aufzufassen. In Irigarays philosophischem Hauptwerk »Speculum« finden sich eingehende Analysen von Blickkonstruktionen aus den Philosophien Platons und Descartes’, die für Irigarays Kritik an der philosophischen Tradition grundlegend sind und auf die ich mich deshalb hauptsächlich beziehe. Mit der Irigarayschen Deutung des für philosophisches Spekulieren paradigmatischen platonischen Blicks lässt sich die cartesianische Setzung des männlichen Subjekts auf die blickende Selbsterkenntnis im ins Innere des Subjekts verlagerten Spiegel zurückführen. Die Berührung als eine vom Blick radikal unterschiedliche weibliche Erkenntnisweise stellt Irigaray in mehreren ihrer Schriften vor. Ausgehend von der Morphologie des weiblichen Geschlechts erweitert sie diese auf eine Grundlage hin, die ihrer Forderung nach einer Theorie weiblicher Subjektivität nahekommt und sich darin mit einem Ziel feministischer Philosophie vergleichen lässt. Die Thematisierung von Irigarays Gegenüberstellung des (männlichen) Sehsinns und des (weiblichen) Tastsinns als geschlechtsspezifische Erkenntnisweisen wurde bislang in der Sekundärliteratur nicht geleistet, obwohl gerade sie Aufschluss bieten kann über möglicherweise unterschiedliche Erkenntnis- und Philosophiekonzepte je des Männlichen und des Weiblichen. Indem sie sich dieser Problemstellung annimmt, will die vorliegende Arbeit ein Diskussionsbeitrag zur Frage einer denkbaren feministischen und/oder weiblichen Philosophie sein.
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